DER LETZTE KUNDE

Von Silke Lambeck

Sie hätte natürlich auch um 12 Uhr schließen können. Die Papeterie neben ihr war schon seit einer Stunde zu und der Schuhladen hatte gar nicht erst aufgemacht. „Kein Mensch kauft an Heiligabend Schuhe“ hatte Herbert gesagt und sich über die Feiertage verabschiedet. Er hätte wohl besser gesagt: Kein Mensch kauft an Heiligabend diese Schuhe. Herbert hatte schon seit längerem auf praktisches Schuhwerk umgestellt, aus Gründen, die nur er kannte. Er lebte von Ersparnissen aus besseren Jahren und ließ sich weder von seiner Frau noch von der jungen Verkäuferin beirren, wenn er jede Saison aufs Neue beigefarbene und graue Gesundheitsschuhe bestellte. Die, soviel stand fest, nicht zum Weihnachtsgeschenk taugten. Mona saß am Tisch in ihrem kleinen Laden, eine Tasse Tee neben sich, und sah auf die Straße, in der die Weihnachtsbeleuchtung angegangen war. Die AG Einzelhandel hatte einen Großteil der Kosten für die Engel, Posaunen und Tannenbäume übernommen, die jetzt hell strahlten, während die Dämmerung einsetzte. Von weitem sah sie den riesigen, rhythmisch blinkenden Weihnachtsmann, der sie jedes Mal nervös machte. Er hatte etwas von einem dieser unheimlichen Clowns, vor denen sie schon als Kind Angst gehabt hatte. Das Weihnachtsgeschäft war dieses Jahr erneut ausgeblieben. Noch im September hatte sie Dutzende von irischen Wollpullovern, Schlafanzügen und Kaschmirmützen bestellt; hatte weihnachtliche Zweige und Holzspielzeug ausgesucht, französische Konfitüre, englischen Gin, Schweizer Schokolade und ein österreichisches Kürbiskernmüsli in einem besonders schönen Glas. Ihre Regale waren voll handgemachter Kekse und ausgefallener Backmischungen, in ihren Vitrinen lag zierlicher Modeschmuck mit Lederbändern und Edelsteinen, farbig bedruckte italienische Seidentücher waren über Lederbügel drapiert, bunte Ledertäschchen für Handys oder Kosmetik stapelten sich auf den Tischen. Mona hatte gehofft, dass es nach diesem Jahr viel Sehnsucht nach Schönheit gab. Dass die Leute durch die Straßen flanieren und nach Geschenken suchen würden. Es gab ja nicht viel anderes zu tun. Die Weihnachtsfeiern waren abgesagt worden, die Märkte auch. Die zähen Adventsfeiern in den Schulen waren ausgefallen, ebenso wie das Vorspiel beim Klavier. Ihre Tochter war schon 13 und fand das nicht weiter schlimm. Aber sie selbst hatte einen Stich gespürt als die vertraute Hektik der Adventszeit plötzlich endloser Ruhe wich. „Friedhofsruhe“ hatte sie gedacht. Und das galt auch für ihren Laden. Die Leute hatten sich daran gewöhnt, zu bestellen. Und sie hatten keine Lust, Impfausweise zu zücken oder sich testen zu gehen. In der sonst so belebten kleinen Straße waren selten mehr als eine Handvoll Menschen unterwegs. Sie blieben vor ihrem liebevoll geschmückten Fenster stehen und bewunderten die mit Lichtern drapierten dänischen Vasen, die goldbeflitterte Tanne und die pastellfarbenen Kerzen. Nur: Sie kamen nicht herein. Es war weniger der Umsatz, um den es ihr ging, das natürlich auch. Aber im Sommer waren mehr Touristen als sonst hier gewesen und sie hatte so gut verdient, dass sie den Verlust einigermaßen würde ausgleichen können. Was ihr am meisten fehlte, waren die Menschen. Mona sah auf den ersten Blick, mit was jemand Freude haben würde. Sie wusste, dass das junge Mädchen in einem bunten Norwegerpullover hinreißend aussehen und ihre Mutter sich sofort in die dunkelroten Samtkissen verlieben würde. Sie konnte verzweifelte Ehemänner am Tag vor Weihnachten so geschickt aushorchen, dass die genau das richtige Geschenk für ihre Frauen oder Männer aussuchten. Sie half Frauen mit Geburtstagsgeschenken für die beste Freundin, stellte überwältigende Geschenkkörbe für anspruchsvolle Blankeneser Schwiegereltern zusammen und wusste, über welche Aufmerksamkeiten sich junge Männer freuten. Und sie hatte sich sehr gewünscht, wenigstens am Heiligabend noch ein paar Suchende in letzter Minute beraten zu können. Aber die letzten Minuten waren jetzt vorbei.

„Draußen hatte es angefangen zu nieseln und die Lichter spiegelten sich auf dem feuchten Kopfsteinpflaster. Sie hörte einen Zug auf der Hochbahnstrecke rattern. Martin würde jetzt wahrscheinlich schon die Gans in den Ofen schieben. Dabei war eine ganze Gans für drei eigentlich zu viel. Aber weil es immer Gans gab, gab es auch heute Gans. Wenigstens etwas, das so war wie immer. Es war eine komische Vorstellung, nur zu dritt zu feiern. Sonst waren sie mindestens zu acht, meist kamen noch Freunde am späteren Abend oder am nächsten Tag. Aber jetzt? Die einen wollten nicht Zug fahren, weil sie warten wollten, bis sie geboostert waren. Die anderen hatten sich im Laufe der letzten anderthalb Jahre daran gewöhnt, allein zuhause zu sein und fanden es zu anstrengend, Freunde zu besuchen. Mona sah auf die Uhr. 14.30. Es war Unsinn, weiter hier sitzen zu bleiben. Sie brachte ihre Tasse in die Küchennische und spülte sie gerade ab, als die Türglocke bimmelte. Die nassen Hände noch über dem Waschbecken steckte sie ihren Kopf aus der Nische und sah einen älteren Herrn, der vorsichtig den Laden betrat. Er trug einen lockigen, weißen Vollbart und einen dicken Wollmantel, den er vorsichtig ausklopfte. Sie wollte ihn schon bitten, eine Maske aufzusetzen- aber im letzten Moment beschloss sie, den letzten Kunden vor Weihnachten so zu begrüßen, wie sie es früher getan hatte: mit einem Lächeln. Der Luftfilter lief, das Fenster war gekippt, sie war geimpft und würde noch etwas mehr Abstand halten. Der Mann hielt ihr ungefragt ein auffälliges goldenes Handy mit dem nun schon vertrauten schwarz-weißen Code entgegen. „Dreifach“, sagte er. Sie winkte ab und fragte: „Wie kann ich Ihnen helfen?“ „Wenn ich das wüsste“, sagte der Mann und sah sie treuherzig an. Er hatte sehr blaue Augen und rote Wangen von der Kälte und auf dem Mantel waren einige weiße Sprengsel zu sehen. Mona schaute heraus. Tatsächlich: Der Regen war in eine Art Schneeregen übergegangen. Sie lächelte wieder. „Dann versuche ich es mal anders: Was suchen Sie denn?“ „Das ist es ja eben“, sagte der Mann. „Ich weiß es nicht. Ich habe gewissermaßen...“, er räusperte sich, „...Wunschzettel verloren.“ „Für wen war der Wunschzettel denn?“, fragte Mona. Wahrscheinlich hatte er eine halbwüchsige Enkelin und Angst, das Falsche auszusuchen. „Der Wunschzettel?“, fragte der Mann. „Es sind Dutzende!“ „Oh!“, sagte sie. „Und sie wissen überhaupt nicht mehr, was drauf stand?“ „Nein, das ist es ja“, sagte der Mann. „Ich kann jetzt einfach nur auf gut Glück... ich kenne die Leute ja nicht mal.“ Das war allerdings merkwürdig. Was sollte das heißen? „Ich... wie kommen sie denn an Wunschzettel von Leuten, die sie nicht kennen?“, fragte Mona. Sie überlegte, ob der Mann nicht aus dem nahegelegenen Pflegeheim für alleinstehende Seeleute ausgebüxt war. Sie hatte schon öfter welche von ihnen im Laden gehabt. Ältere Herren mit knorrigen Gesichtern und Manieren, die spazieren gingen und dann nicht mehr zurückfanden. Der Mann hob die Hände und sagte: „Es ist mein Beruf. Und in all den Jahren ist mir sowas noch nie passiert. Eine Katastrophe!“ Kein Seemann. Wahrscheinlich eine Art Bote. Nun schien er seine Aufträge verloren zu haben. Und das an Weihnachten! Aber da war er bei Mona genau an der richtigen Adresse. „Wissen Sie denn ungefähr, wie alt die Leute sind? Ob Männer oder Frauen?“ Der Mann zückte ein Handy und hielt es dicht vor seine Augen. „Die Namen und das Alter habe ich, und die Adresse“, sagte er. „Bei einigen auch den Beruf.“ „Na, dann wollen wir mal“, sagte Mona. „Womit fangen wir an?“ Der Mann sah wieder auf sein Handy und sagte: „Annika Berthold, 48, Architektin.“ Architektin. Mona dachte einen Moment nach. Wahrscheinlich mochte sie keinen Schnickschnack, trug schwarz oder grau, wenig Schmuck, dafür aber einen knallroten Lippenstift. Sie ließ den Blick schweifen – dann lief sie einmal quer durch den Laden und griff in ein Regal. Hier zog sie vorsichtig eine blassrosa Decke heraus. Sie war sehr leicht und trotzdem warm, die Farbe ungewöhnlich, aber so zurückhaltend, dass sie zu allem passte. Und sie würde einer Frau Freude machen, die wahrscheinlich viel mit Ecken und Kanten in jeder Form zu tun hatte. Und der öfter mal kalt war. „Hier“, sagte Mona und hielt dem Mann die Decke entgegen. Er strich vorsichtig darüber und sah sie dann an. „Das ist... perfekt“, sagte er. „Können Sie es auch einpacken?“. „Und wir sollten ein Namensschild daran binden“, schlug Mona vor. Ihr Handy surrte. „Kommst du bald?“ schrieb Martin. „Ich habe noch einen Kunden“, antwortete sie. „Danach.“ Immerhin hatten sie dieses Jahr keine Termine. Der Gottesdienst fiel ebenso aus wie das Turmblasen. Sie schlug die Decke vorsichtig in einen ihrer schönen Geschenkbögen, band eine dicke Schleife herum und legte das Preisschild neben die Kasse. „So“, sagte sie, „weiter geht‘s“. Eine Stunde später stapelten sich die Pakete neben der Kasse. Kleine Päckchen, wie das für Clara Muschinsky, die 14 war und einen Aquamarin am Lederband bekam, und große, wie das für Karl Gerhard, 55, Steuerberater, dem sie einen irischen Whisky mit zwei Gläsern einpackte. Sie hatte ein Bauhaus-Memory für Mehmet Cengül, 6, ausgesucht und ein paar dicke Kaschmirsocken für Dora Liebermann, die schon 87 war. Der Mann hatte skeptisch ausgesehen, als sie ihm die Socken zeigte. „Socken? Für eine Dame? Sind Sie sich da sicher?“ „Ganz sicher!“, hatte Mona ihn beruhigt. Um kurz vor vier waren sie fertig. Der Mann sah entschieden weniger verzweifelt aus und zückte eine glitzernde Kreditkarte, während Mona die Preise eintippte. Als sie die Summe hatte, erschrak sie selbst ein wenig: Das war der Umsatz einer guten Woche. Einer sehr guten Woche. „Es ist ziemlich viel geworden“, sagte sie vorsichtig und nannte die Zahl. „Schon in Ordnung“, antwortete der Mann und reichte ihr die Karte. Sie sah auf den Namen. Der Mann hieß Santer, Klaus Santer. Sie musste lächeln. „Dann bedanke ich mich sehr herzlich, Herr Santer“, sagte sie. „Ich bedanke mich bei Ihnen“, sagte der Mann. „Sie sind wirklich ein Engel.“ „Naja“, sagte sie. „Brauchen Sie eine Tüte?“ „Das wird nicht reichen“, sagte er. Beide sahen etwas ratlos auf den Stapel Geschenke. „Ich habe eine Idee!“, rief Mona dann. Sie lief in ihren kleinen Lagerraum und schob ein paar Kisten zur Seite. Dann hatte sie gefunden, was sie suchte. „Schauen Sie mal“, sagte sie und hielt dem Mann einen großen Jutebeutel entgegen, der oben mit einer Schnur geschlossen werden konnte. Sie stapelten die Geschenke hinein und der Mann warf sich den Sack über die Schulter. „Dann wünsche ich Ihnen frohe Weihnachten“, sagte er. „Das wünsche ich Ihnen auch“, sagte Mona und sah ihm hinterher, wie er mit schnellen Schritten im Dunkel der Stadt verschwand. Sie fühlte sich leicht und beschwingt. Während sie den Computer herunterfuhr und die Lichter löschte, summte sie „Jingle Bells“. Draußen griff sie nach ihrem Handy. „Du – nicht böse sein. Ja, ich komme jetzt. Ich hatte gerade jemanden, der den halben Laden gekauft hat.“ Sie steckte das Handy ein und wickelte den Schal etwas enger um den Hals, denn der Wind wehte ihr jetzt die dicken Flocken direkt ins Gesicht. Die Glocken der alten Kirche begannen zu läuten und vor ihr hüpften zwei Jungs an den Händen ihrer Eltern den Bürgersteig entlang. Dann riss einer der beiden sich los und drehte sich in den Schneeflocken, bis er fast gegen sie fiel. Sie hielt ihn fest und lachte. „Ich habe gerade den Weihnachtsmann gesehen!““, krähte der Junge und strahlte sie an. „Wow!“, sagte Mona. „Cool. Woran hast du ihn erkannt?“ „Na, am Bart“, sagte der Junge, als habe sie gerade etwas ganz besonders Dummes gefragt. „Keiner sonst hat so einen Bart.“ „Klar“, sagte Mona, aber der Junge war schon weitergehüpft. Seine Eltern winkten ihr zu. „Frohe Weihnachten!“, rief die junge Frau. „Gleichfalls“, rief Mona. „Frohe Weihnachten!“

Silke Lambeck ist Autorin in Berlin und schrieb unter anderem „Das Weihnachtsmannprojekt“.

Bilder: Schufenster mit Dekoration (© GBI Holding AG/iStock) Einpacken der Geschenke (© GBI Holding AG/ Pexels)